Montag, 13. Dezember 2004

Warum Südafrika?

Wenn wir uns jenseits der konspirativen Hirngespinste fragen, warum die Epidemie gerade im Süden der Sahara so dramatische Dimensionen angenommen hat, stoßen wir auf unbequeme Tatsachen. Wir stellen nämlich fest, dass der gewaltsame Versuch der Modernisierung des Erdteils jene Feld bestellt hat, auf dem die HI-Viren ideale Bedingungen vorfinden. Das präkoloniale Afrika konnte den Mächten Europas nichts entgegensetzen, es wurde entdeckt, erobert, geplündert und nach dem Ende der Kolonialära von den eigenen Eliten nach dem kapitalistischen oder realsozialistischen Modell „entwickelt“. Dieser Prozess zerstörte jahrhundertealte Wirtschaftsformen, kulturelle und religiöse Traditionen, die soziale Ordnung und ihre Sicherungssysteme. Die Lebenswelten des alten Afrika gingen unter. HIV/Aids nähre sich aus den Verheerungen eines ganzen Jahrhunderts, befindet der Soziologe Reimer Gronemeyer; er sieht in der Globalisierung den letzten Akt einer Tragödie, die mit der Kolonialisierung begann. „Der ökonomische Niedergang und der Aufstieg der Epidemie gehören zusammen wie Zwillinge.“ So wie das Virus das Immunsystem der menschlichen Körperzellen zerstört, zersetzt es die letzten Abwehrkräfte der afrikanischen Gesellschaft.
Es ist kein Zufall, dass die Infektionsraten gerade dort exorbitant hoch sind, wo die Modernisierung besonders rücksichtslos vorangetrieben wurde: im Kupfergürtel Sambias und auf den Teeplantagen Malawis, in den Diamantenminen Botsuanas und auf den Tabakfarmen Simbabwes.
Vor allem aber in den Bergbau- und Industriezentren Südafrikas, dem Land des institutionalisierten Rassenwahns. Die Apartheid schuf Menschenreservate, so genannte Bantustans, um die Wohn- und Arbeitswelt der schwarzen Bevölkerung zu trennen. Die erzwungene Mobilität entwurzelte Millionen. Die Männer mussten ihre homelands verlassen und als Lohnsklaven in den Goldgruben und Fabriken arbeiten, wo sie, säuberlich nach „Stämmen“ geordnet, in Hostels kaserniert oder in Townships gepfercht wurden. Das System der Wanderarbeit zeriss Familien, Dörfer, Gemeinschaften, das gesamte soziale Gewebe. Es hinterließ ein Trümmerfeld, auf dem Krankheit und Not, Aggression und Alkoholismus, Prostitution und Vergewaltigung gedeihen. Die Mehrheit der Menschen vegetiert am Existenzminimum. Sie sind oft mangelernährt, ihr Gesundheitszustand ist entsprechend schlecht. Hinzu kommen Unwissen und Aberglaube, die Macht der Männer über die Frauen, die Verirrungen der Sexualität, die Gleichgültigkeit der Armut, das große Leugnen und Schweigen. Und so erscheint die Seuche wie ein Brennspiegel, in dem wir alle Malaisen Afrikas verbündelt sehen.

Quelle: ACH, AFRIKA; Bartholomäus Grill

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